top of page
  • Stefanie Burr

Was mein Vater werden wollte


Der Opa hat es vergeigt. Er hat die Kinder in die Welt der Schlager eingeführt. Seitdem will die Große nicht mehr Ärztin, Eisverkäuferin oder Töpferin werden, sondern Schlagersängerin. So wie die atemlose Helene. Der Opa findet das toll. Dabei hatte er als Kind einen ganz leisen Berufswunsch. Mit einem Fischer hatte das zwar auch zu tun. Aber eben nicht mit einem lauten. Ich erzähle es Euch.

Mein Vater war Sohn ostpreußischer Flüchtlinge. Seine Eltern waren nach dem Krieg in einem mecklenburgischen Dorf untergekommen. Sie erhielten Land und bauten sich ein Haus in der Nähe eines Sees.

Als kleiner Junge lief mein Vater jeden Tag nach der Schule hinunter zum Ufer. Hoffnungsvoll schaute er auf das Wasser. Er wartete auf den großen schwarzen Kahn von Fischer Schulz. Immer zur gleichen Zeit ruderte der alte Mecklenburger dort vorbei, den Blick stumm in die Ferne gerichtet.

Was machte er dort draußen? Welche Geheimnisse barg der See?

Mein Vater war fasziniert und wusste selbst nicht warum. Denn Schulz war ein grummeliger Mann. Er ließ kein gutes Haar an den Flüchtlingen; über ihn kursierten viele Gerüchte. Als er ein Kind an Fieber verlor, sagte er im Dorf, der Tod hätte lieber zehn Flüchtlingskinder nehmen sollen. Man nannte ihn den Ostpreußenhasser.

Meinem Vater war das egal. Tag für Tag stand er am Ufer und beobachte den einsamen Fischer.

Eines Tages trug sich etwas Sonderbares zu. Fischer Schulz ruderte auf das Ufer zu, an dem mein Vater stand. Ihm wurde flau. Was würde jetzt geschehen?

Schulz legte direkt vor ihm an und lud ihn mit einer stummen Geste zu sich ins Boot. Dann ruderte er ohne Worte hinaus auf den See. Jeden Tag hatte er den kleinen Jungen dort stehen sehen. Nun nahm er ihn mit zu den Reusen und zeigte ihm, wie er die Netze einholte.

Das war ein Abenteuer. Alles in meinem Vater leuchtete. So eigensinnig der alte Mann auch war, so gut verstand er seine Arbeit. Hier draußen war er einfach nur Fischer. Jeder Handgriff saß und mein Vater kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Aale und Hechte hatte er zuvor noch nie gesehen. Auch das Dorf und die Umgebung sahen von hier ganz anders aus. Alles war so schön!

Am Abend setzte Schulz meinen tief bewegten Vater wieder zu Hause ab. Worte hatten sie kaum gewechselt. Aber das brauchten sie auch nicht.

Ein paar Wochen später ging es in der Schule um Berufswünsche. Die Jungs gaben Schmied, Traktorist oder Zimmerer zum Besten. Währenddessen schwelgte mein Vater in Erinnerungen an diesen einen besonderen Tag. Er sah den schwarzen Kahn über das Wasser gleiten, hörte die Netze auf den hölzernen Bootsboden klatschen, roch die Luft über dem See und fühlte das kühle Nass auf seiner Haut. Dann kam er an die Reihe. „Und Du, Manfred, was möchtest Du einmal werden?“. Mein Vater zögerte keine Sekunde. Er stand auf und sagte aus tiefster Seele: Schulz!

So ist das. Der eine fischt Fische, die andere Fans und manche im Trüben. Mein Vater wurde weder Schulz noch Fischer. Insofern besteht die berechtigte Hoffnung, dass die Große nicht der Schlagerwelt ins Netz geht. Ärztin geht auch, findet Opa.

Meine Großeltern mit meinem Vater und seinem zwei Jahre älteren Bruder.

Als er älter wurde, ruderte mein Vater selbst gern auf dem See umher. Anfangs in einem Holztrog, später in einem richtigen Boot.


214 Ansichten

Ähnliche Beiträge

Alle ansehen

Was nie verloren gehen darf

Neulich saß ich in der hintersten Ecke eines Cafés in der Altstadt. In der Tischreihe vor dem Tresen sah ich eine Dame um die Mitte siebzig. Kurze graue Haare, gut gekleidet, nett aussehend. Allerding

bottom of page