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  • Stefanie Burr

Was nie verloren gehen darf


Neulich saß ich in der hintersten Ecke eines Cafés in der Altstadt. In der Tischreihe vor dem Tresen sah ich eine Dame um die Mitte siebzig. Kurze graue Haare, gut gekleidet, nett aussehend. Allerdings schien etwas mit ihr nicht richtig zu stimmen. Sie stand immer wieder auf und kramte auffällig lange in ihren Beuteln und Taschen. Das bemerkte auch eine mittelalte Frau zwei Tische weiter. Sie begann zunehmend lauter zu lachen und sich mit ihrer Begleitung unüberhörbar darüber auszutauschen. Auch der Nachbartisch klinkte sich fröhlich mit ein. Als die alte Dame nun zum Tresen ging und bestellen wollte, motzte das anführende Lästermaul: „Na Gott sei Dank habe ich Urlaub. Nichts ist schlimmer als diese Leute, die stundenlang vor dem Tresen stehen und nicht wissen, was sie wollen!“ Als die alte Dame zurück am Tisch war und wieder zu kramen begann, ging das Getuschel weiter.

Da saßen sie, selbstgefällig und unreflektiert. Fremde, die sich verbündeten, um sich über einen Schwächeren lustig zu machen. Ich wurde wütend. Ich meine, diese alte Dame hat auch ein Leben. Vielleicht war sie eine aufopfernde Krankenschwester, eine Lehrerin oder eine fleißige Bäckerin gewesen? Vielleicht eine ganz liebevolle Mutter? Möglicherweise hatte Sie ein sehr aufregendes Leben, vielleicht aber auch ein ganz ruhiges. Jetzt rutschen in ihrem Kopf ein paar Dinge durcheinander. Ja und?

Vielleicht kann man seinen Verstand verlieren. Aber die Menschenwürde, die nicht. Zu meiner Wut gesellte sich Traurigkeit. Wo und wann war das Mitgefühl dieser Menschen so auf der Strecke geblieben? Was hat ihnen gefehlt, um Freundlichkeit und Respekt zu entwickeln? Ich fühlte mich kurz ohnmächtig, aber dann wurde mir einmal mehr klar: Ich will meinen Kindern nicht nur Liebe und Nähe geben, damit sie Vertrauen in dieses Leben gewinnen. Ich will ihnen auch zeigen, wie wichtig es ist, eine Haltung zu haben – und sie zu zeigen.

Während ich in meinen Gedanken hing, stand die alte Dame auf und ging. Auch ich erhob mich kurze Zeit später. Ich nahm meinen Rucksack und schritt auf die Anführerin der Empathielosen zu. Ich lächelte freundlich und sagte: „Wissen Sie, was ich Ihnen wünsche?“ In Erahnung einer Watschen wurde sie knallrot. Ihr „Ja, bitte?“ sollte wahrscheinlich gleichgültig klingen, hatte aber etwas Nervöses. „Ich wünsche Ihnen, dass Sie, wenn Sie einmal alt und tüddelig sind, NIEMALS so etwas erleben müssen, wie diese Frau eben. Ich wünsche Ihnen immer Menschen um Sie herum, die Sie mit Verständnis, Respekt und Mitgefühl behandeln. Das wünsche ich Ihnen wirklich von ganzem Herzen. Und jetzt, einen guten Tag.“ Im Café war es plötzlich ganz still geworden. Ich ging mit einem Lächeln.

Liebe. Das ist der Weg.


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